Bezirk Aue​rbach

Rathenaustraße 5
08209 Auerbach

Ich möchte nie mehr so leben

Lk. 7,36-50

Ganz vorsichtig öffnet er das angelehnte Fenster im Erdgeschoss. Der Bruch ist ihm heute leicht gemacht. Hoffentlich lohnt es sich auch. Wie eine Katze windet er sich ins Zimmer. Seine Augen haben sich schnell an die Dämmerung des Raumes gewöhnt. Er hat inzwischen längst ein Gespür dafür, wo sich die wichtigsten Dinge befinden. Schnell ist die mitgebrachte Reisetasche gefüllt. Er dreht sich um, will den Raum durchs Fenster verlassen, als plötzlich das Licht angeschaltet wird. Blitzartig dreht er sich um, wird eines älteren Herrn gewahr und will sich auf ihn stürzen. Da fällt ein Schuss. Er sackt zusammen, verspürt einen sagenhaften Schmerz und wacht auf.

Klaus braucht einen Moment, um zu begreifen, wo er ist. Der Schmerz? Der kam vom Wecker, den er sich irgendwie auf die Brust fallen lassen hat. An ein Weiterschlafen ist freilich nicht mehr zu denken. Er weiß sehr genau, dieser Traum gehört zu seiner Vergangenheit und sein Leben hätte wirklich so enden können.

Klaus erinnert sich noch sehr genau. Die Bilder aus der Schulzeit stehen in ihm auf. Er durchlebt die Ablehnung, ja Verhöhnung der Klasse. Er verschaffte sich Anerkennung durch massive Gewalt anderen gegenüber. Nein, Anerkennung war es nicht, es war einfach die Angst vor ihm. Seine Eltern waren als Asoziale abgestempelt. Er war es auch. Der Weg seines Lebens war vorprogrammiert. Er kotzte auf die Welt. Erst war es Vandalismus, dann kamen Schlägereinen dazu. Er kam in den Jugendknast. Was er noch nicht wusste, lernte er dort. Er begann nach dem Knast zu arbeiten. Nicht in einem regulärem Betrieb, nein, er holte sich seinen Lebensunterhalt durch Einbruch und Raub. Immer wieder saß er vor dem Richter. Der Knast wechselte mit dem Leben draußen. „Na, großer Klaus, wieder da? Ich hab schon gedacht, ich sehe dich nicht mehr hier.“ So empfing ihn eines Tages einer seiner Aufpasser.

Er grinste nur. So schlecht war das Leben hinter Gittern gar nicht. Aber sollte es wirklich so weitergehen? Er wollte es sich nicht eingestehen, aber er sehnte sich nach einem Leben in geordneten Verhältnissen. „Ein Häuschen mit Garten...“, so musste er denken. Wo hatte er das nur gehört? Er hatte einen Mithäftling. Den kannte er schon aus früheren Zeiten. Vor dem musste man auf der Hut sein. Der saß nicht nur wegen Einbruchs oder ähnlichen Dingen. Zu seiner Überraschung benahm sich der aber anders als sonst. Wenn es beispielsweise zu Schlägereien zwischen den Knastis kam, schlug er nicht mit drein sondern trat dazwischen. Zwei drei Sätze genügten und Ruhe war. Man hatte nach wie vor Respekt vor ihm. Eines Tages trat der „wilde Jochen“ auf ihn zu und fragte, ob er nicht an einer Stunde mit dem Pfarrer teilnehmen wolle. Klaus war paff. Er wollte schon losprusten, als er das ermutigende Zwinkern wahrnahm. Er ging mit. Und in dieser Gesprächsrunde passierte es. Er weiß heute noch nicht, wie es über ihn kam. Er wurde Christ und ließ sich noch in der Anstalt taufen. Sein „Empfangschef“ dachte, er spinne. Aber es war in sein Leben eine Freude gekommen, die er so noch nie erfahren hatte. Er wusste, dass die Vergangenheit nicht mehr sein Leben bestimmen konnte. Dieser Jesus hatte einen Schlussstrich unter sein Dasein gezogen. Ein Leben lag vor ihm, das er mit dem alten nie mehr eintauschen wollte. Als er wieder die Haftanstalt von der anderen Seite anschauen durfte, wurde er vom Pfarrer abgeholt. Er und einige aus der Gemeinde halfen ihm, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Keine Frage, es gab auch solche, die ihm nicht über den Weg trauten. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Aber das konnte ihn nicht hindern, seine ganze Liebe für Jesus zu zeigen. Als er sein erstes Gehalt bekam, hat er aus lauter Dankbarkeit nur behalten, was er zum eigenen Unterhalt gerade so brauchte. Alles andere legte er in den Korb. Und es hatte ihm nicht einmal weh getan. Wenn der Pfarrer jemanden für Arbeiten brauchte, war er ganz selbstverständlich dabei. Das war er seinem Herrn schuldig.

Klaus stand auf. Noch vor dem Frühstück holte er seine Bibel, die inzwischen schon ganz schön zerlesen war, las den angegebenen Text und dankte Gott für die Liebe, die ihn eingeholt hatte.

Volker Schädlich